Schmitt, Samuel, „Am Rande notiert“. Anmerkungen zum christlich-jüdischen Zusammenleben. Vorwort von Großrabbiner Georges Vadnai. Kartoniert. 95 SS. Schriesheim, Verlag Frank Albrecht, 1990.
Christlich-jüdisches Zusammenleben im 20. Jahrhundert am Beispiel eines protestantischen Exilanten, der nur wegen des jüdisch klingenden Namens verfolgt wurde. Eine theologisch-philosophische Skizze über das Leben im französischen Internierungslager und den weiteren Lebensweg des Autoren.
Vorwort
Nach dem alten geflügelten Wort „habent sua fata libelli“ haben die Bücher manchmal ihre eigene Geschichte. Ebenso gewisse Vorwörter, wie das unsere auch.
Großrabbiner Dr. Georges Vadnai
Um einen Film zu drehen über „die Lager der Stille“ – St-Cyprien, Les Milles, Gurs und Le Vernet – während des Zweiten Weltkriegs, hat der junge Filmschaffende Bernard Mangiante Ende November 1987 eine Gruppe von denen versammelt, denen es gelungen war, aus diesem Inferno zu entkommen.
Dort, auf dem Gelände von Le Vernet und Gurs von den Lagern selbst ist außer einigen Gedenktafeln und den Erinnerungen daran kaum mehr etwas übriggeblieben – habe ich Samuel Abraham Schmitt kennengelernt, und dort ist auch unsere Freundschaft entstanden.
Die Geschichte seines Lebens, die er mir während der Abend- und Nachtstunden in Gurs und Le Vernet erzählt hat, hat mich an das Buch eines Journalisten denken lassen, der sich als Jude ausgegeben hat, um möglichst wirklichkeitsnah berichten zu können. In zunehmendem Maße hat er sich mit dem „Objekt“ seiner Ermittlungen identifiziert. Er ist gewissermaßen in die Haut eines Juden geschlüpft.
Die ganze Tragweite der Ereignisse zu bewahren war Samuel Abraham Schmitts zukünftiges Schicksal. Seine Eltern, mit dem Protestantismus tief verwurzelt und dadurch auch mit der Bibel, hatten ihm zwei biblische, d. h. eigentlich jüdische Vornamen gegeben. Diese Besonderheit der Namengebung hatte für ihn viele spöttische und abfällige Bemerkungen zur Folge. Er verweigerte den Nazigruß und den Eintritt in die Hitlerjugend. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Schweiz mußte er wieder nach Deutschland zurückkehren, das er kurz darauf erneut verließ (in der Annahme, daß das für immer sei).
Erste Etappe: Antwerpen, wo er seine Lehrzeit in Flüchtlingselend und Judentum absolvierte. Dort entwickelten sich auch erste freundschaftliche Bande mit einigen Juden. Bei der Invasion Belgiens (1940) zwangsweise Verfrachtung nach Südfrankreich. Internierung zuerst im Lager von St-Cyprien, dann in den Lagern von Les Milles und Gurs, wo er in der Folge wegen seiner Kenntnisse des Jiddischen und seiner Beziehungen zu den jüdischen Mitgefangenen von vielen als ein echter Jude angesehen wurde. Er war wegen seines jüdischen Vornamens auf der Deportationsliste, konnte aber 1942 in die Schweiz fliehen.
Von christlicher Herkunft, manchmal als „vermutlicher Jude“ betrachtet, war S. A. Schmitt wohl oder übel mit der Judenfrage verbunden. Die Probleme der Beziehungen zwischen Juden und Christen wurden zu einer seiner Hauptsorgen. Als Mitglied des Komitees der „Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft“ kämpft er für die Annäherung zwischen Juden und Christen nach der geheiligten Formel: „in der gegenseitigem Wertschätzung und ohne Synkretismus“. Wie viele Christen guten Willens macht er sich auf die Suche nach nicht nur scheinbar heilenden Mitteln, sondern auch nach dem Allheilmittel, das das Wiederaufleben von Antisemitismus, Rassismus und Nationalsozialismus verhindern und eine tolerantere und brüderlichere Welt aufblühen lassen soll als die, die in „Nacht und Nebel“ untergegangen ist.
Um das Herannahen des Tages zu beschleunigen, „wo die Völker aus ihren Schwertern Pflugscharen schmieden“ (Is. 2, 4), möchte S. A. Schmitt mit der Vergangenheit reinen Tisch machen und alle jüdisch-christlichen Streitigkeiten für immer beseitigen. Zwei Vorbedingungen, schon erfüllt, scheinen ihm ein gutes Omen zu sein: die Zurückführung des „Rabbi von Nazareth“ durch die Juden in ihre Gemeinschaft – wir würden eher sagen: durch gewisse Juden (wie z. B. Lapide, den S. A. Schmitt zitiert) – und daß die Christen ihres jüdischen Ursprungs bewußt werden. Gemäß einer Formulierung von Prof. Jules Isaac: „Dann wird die Achtung an die Stelle der Herabwürdigung und Verachtung treten.“
S. A. Schmitt ist überzeugt, daß die gemeinsame Erwartung des Messias – die Juden erwarten sein Kommen, die Christen seine Wiederkehr – Christen und Juden immer näher zusammenbringt. Aber die Antwort auf die Frage, ob sie wirklich dieselbe Person erwarten, bleibt offen. Übrigens behauptet der Zohar, daß der Messias sich in Galiläa, in Israel, offenbaren wird (vgl. Zohar: Vaera), in einem vom Vatikan nicht anerkannten Land. Wird der Vatikan „die Stimme des Erlösers“ hören, die ihn vom Eretz Jisrael erreicht, oder wird es auch auch eine „Stimme des Rufers in der Wüste“ sein?
S. A. Schmitt schließt sein Buch mit einem Bild und einem Aufruf. Das Bild: zwei Männer, ein Jude und ein Christ, die als Alpinisten eine Seilschaft bilden, erklimmen einen steilen Berg. Ihr Schicksal, das Erreichen des Gipfels oder der Absturz, hat sie fest miteinander verbunden.
Der Aufruf ist eine pathetische Ermahnung an Juden und Christen, peinlich genau das Hauptgesetz der Thora zu beachten: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lev. 19, 18), das auch Jesus als erstes Gebot betrachtet. Das Nichtbeachten dieses Gebots kommt einem richtigen Chillul Hashem, einer Entweihung des Namens Gottes, gleich.
Aber es gibt auf dieser Welt zahllose Menschen, die weder Thora noch Matthäus kennen! Daher bin ich der Ansicht, daß die Nächstenliebe – sei sie nun jüdisch, mohammedanisch, christlich oder buddhistisch – nicht nur aus dem Leviticus hervorgeht, sondern auch aus einer Stelle im Talmud: „Warum hat der Schöpfer am Anfang nicht nur einen Mann und nur eine Frau erschaffen?“ Und der Talmud antwortet: „Dafür gibt es zwei Erklärungen: erstens, um zu verstehen zu geben, daß eine einzige menschliche Seele gleich viel wert ist wie die gesamte Schöpfung. Wenn jemand Adam beseitigt hätte, hätte er damit – die Zukunft der gesamten Menschheit vernichtet.“ Zweitens, damit niemand darauf stolz sein kann zu sagen: „Mein Vorfahre war berühmter als deiner, in seinen Adern floß ein edleres Blut geflossen als in denen des deinen.“ Nein, alle Menschen sind Brüder, Kinder des einzigen himmlischen Vaters und des einzigen irdischen Vaters, Adams.
Adam ist ein Ebenbild Gottes. – Und Gott sprach: „Lasset uns Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich“ (Gen. 1, 26). Nächstenliebe bedeutet das Bild Gottes lieben, das sich im Gesicht „meines Bruders, den ich suche“ widerspiegelt (Gen. 37, 16).
Von dieser doppelten Liebe zu Gott und zum Mitmenschen ist das Werk von Samuel Abraham Schmitt beseelt.
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